Darf man eine Königsetappe der TOUR Transalp nur aus zweit- und drittklassigen Bergstraßen zusammenkleistern, nur um am Ende die längste und härteste Etappe gebaut zu haben? Nein, natürlich nicht. Da muss im Höhenprofil schon ein Hammer der Sonderkategorie herausragen, einer wie das Stilfserjoch, oder eben ein Kletter-Monster wie die Straße hinauf zum Passo Crocedomini. Von Darfo Boario Terme steigt die Straße bis zum höchsten Punkt konsequent an, 1750 Meter Krabbelei am Stück warten darauf, verflucht zu werden. Nur ein paar flache Kilometer im Dunstkreis des Startortes lassen die Beine langsam warm werden. Der Crocedomini ist ein Brett, eine harte Prüfung, und deshalb ein wahres Herzstück einer echten Königsetappe. Wie am Vivione am Tag zuvor ist auch die Straße da hinauf ein Trip durch eine verlassene Welt. Hinter Bienno, dem letzten größeren Ort, ist es mit dem Trubel vorbei und die Straße schlängelt sich weiter hinauf durch kleine, ruhige Bergdörfer, später mit wenig Verkehr über Wiesen hinauf zum Pass auf 1895 Metern Höhe – und noch etwas weiter zur eigentlichen, weniger bekannten Passhöhe, dem Goletto di Cadino auf 1940 Metern Höhe. Weite Almen bestimmen ganz oben die Landschaft, saftiges Grün überwältigt die Sinnesrezeptoren. Die Berge kratzen nicht mehr. Mit diesem leuchtenden Teppich überzogen streicheln sie sanft den Himmel. Die Kühe laufen rum und schauen dem Spektakel staunend zu, auf den Almen duftet es nach Kräutern uns Käse. Himmlisch ist es hier oben. Ein Sehnsuchtsort! Also, es lohnt sich, die Strapazen zu vergessen und diesen wirklich schönen Pass zu bewältigen.
Die Abfahrt hinüber ins Valle del Chiese ans Nord-Ufer des Lago d’Idro ist rassig, und mit einem kurzen Gegenanstieg gewürzt, sodass im anderen Tal angekommen schon 2000 Höhenmeter vernichtet sind. Roncone ist aber noch weit weg. Über 20 Kilometer weiter im Norden, 400 Meter weiter oben wartet das Ziel dieser Etappe. Da könnte man jetzt am Fluss entlang hinaufrollen, aber purer Entdeckergeist, die Lust die schönsten Seiten im Chiesetal zu erkunden und eine Prise Größenwahn weisen jetzt die pure Vernunft in die Schranken. Von Cimego schlängelt sich eine kleine Straße noch einmal hinauf nach Boniprati. Die Belohnung auf dem Weg ist ein tolles Chiese-Panorama, ein Häppchen Trentiner Kultur im malerischen Bergdorf Castel Condino und die Gewissheit, dass das Ziel „Boniprati“ übersetzt „Gute Wiesen“ heißt und man auch in Italien einen hässlichen Fleck so nicht nennen würde. Das ist idyllischer Platz zum Rasten. Wer dafür keine Zeit hat, muss sich jetzt zumindest etwas sammeln, die Anspannung wieder hochfahren für eine rasante Abfahrt auf einer recht schmalen Straße hinab nach Pieve di Bono. Hier ist das Ziel schon deutlich näher, eine letzte Stufe steht aber noch im Weg. Die wird jetzt auf einem lohnenden, kleinen Umweg über das Val Daone, ein Seitental, bewältigt. Auch dieser kurze Abstecher vom Fluss lohnt sich. Wer die pittoresken Dörfer Bersone, Daone und Praso hinter sich gelassen hat, fragt nämlich nicht mehr, wie viel er schon gefahren ist, sondern wie viel es noch von diesem reizvollen Tal zu sehen gibt, von diesem versteckten Geheimtipp im
Hinterland des Gardasees. Einen See gibt es am Ziel dieser Etappe übrigens auch schon, das ist ein Vorgeschmack auf das große Ziel am letzten Tag. Der Lago di Roncone ist viel, viel kleiner aber für ein erfrischendes Bad genügt auch der allemal. Und eine Bar am Ufer gibt es auch. Wer diese gewaltige Etappe geschafft hat, darf nämlich ruhig schon ein wenig feiern.